Überlegungen zur Objektivwahl
Erst die Möglichkeit, Objektive zu wechseln, macht Systemkameras so vielseitig. Nachdem wir im letzten Beitrag gelernt haben, was gute Objektive auszeichnet, kommen wir nun zur entscheidenden Frage: Welche Objektive soll ich zu meiner Kamera anschaffen?
Klar: Es gäbe für jede Motivsituation immer ein Objektiv, das gerade ideal wäre. Doch in der Praxis müssen wir uns meist beschränken. Oft ist ein Kompromiss nötig zwischen einer vollständigen Ausrüstung, mit der man für jede Situation optimal vorbereitet ist, und leichtem kompakten Equipment, mit dem man mobiler, schneller und flexibler ist. Gerade in unserem Berufsalltag oder auf Reisen gibt es Situationen, in denen es schnell gehen muss. Wenn ich dann erst das passende Objektiv heraussuchen und wechseln muss, verpasse ich vielleicht die Fotogelegenheit. Deshalb soll die Kameraausrüstung nur so umfangreich wie nötig sein, dafür aber so leicht und handlich wie möglich bleiben. Eine «abgemagerte» Fotoausrüstung ist kein Grund für Ärger, sondern eine Herausforderung an meine Fantasie und Kreativität, mit minimalem Einsatz maximale Resultate zu erzielen. Wir müssen an unsere Bilder, nicht an unsere Ausrüstung glauben!
Bedürfnisse
Wie bei der Wahl eines Schuhs oder einer Kamera müssen wir uns bei der Auswahl unserer Objektive zuerst über unsere Bedürfnisse und Ambitionen im Klaren sein. Beschränke ich mich auf allgemeine Motive oder habe ich spezielle Interessen wie beispielsweise Tiere, Architektur oder Porträts? Wie wichtig sind mir perfekte Fotos? Fotografiere ich nur für mich selbst oder im Auftrag gegen Geld? Werde ich mich auf der Reise vor allem in der Natur oder eher in Städten, bei Menschen aufhalten? Wie bewege ich mich fort? Wenn ich oft zu Fuss in den Bergen bin, hat das erträgliche Gewicht mehr Bedeutung, als wenn ich mich mit dem Fahrrad oder gar mit dem Auto bewege.
Reise- oder Ultrazoom
Natürlich ist es am bequemsten, möglichst den gesamten benötigten Brennweitenbereich mit einem einzigen Objektiv abzudecken. Es gibt heute sehr gute Reisezooms, die von 24 bis 200 mm Brennweite reichen und so vom Weitwinkel bis zum Tele alles in einem bieten. Dieses kommt zwar optisch und von der Lichtstärke her nicht an kleinere Zooms oder gar Festbrennweiten heran. Trotzdem nehme ich immer ein solches Objektiv mit auf die Reise und habe es häufig als Standardobjektiv aufgesetzt. Lieber ein vielleicht nicht technisch perfektes Bild als gar keines, weil ich das Motiv wegen des Objektivwechsels verpasst oder die entsprechende Brennweite aus Bequemlichkeit im Hotel gelassen habe. Bei solchen Allround-Zooms achte ich auf möglichst viel Weitwinkel am unteren Ende. So ziehe ich ganz klar ein 24-200-mm-Objektiv einem 28-300 mm vor, zumal solche Objektive tendenziell im Weitwinkelbereich optisch besser sind als im Telebereich. Ein Reisezoom reicht zwar für viele Motive. Trotzdem nehme ich häufig weitere Objektive mit.
Weitwinkelzoom
Gerade wer gerne imposante Berglandschaften fotografiert, wird mehr als 24 mm Brennweite schätzen. Weitwinkelzooms reichen meist bis etwa 14 mm – da bringt man einfach mehr drauf. Weit entfernte Bildteile werden kleiner dargestellt, sie scheinen in die Ferne gerückt. Der Vordergrund hingegen erscheint grösser und wird entsprechend betont. Die Entfernungen zwischen den einzelnen Motivebenen sind scheinbar auseinandergezogen, was eine ausgeprägte Räumlichkeit und Dynamik erzeugt. Je kürzer die Brennweite, desto ausgeprägter das Gefühl von Plastizität und Tiefe. Bei Landschaften kann so das Gefühl unendlicher Weite erzeugt werden, und Architekturaufnahmen erscheinen noch höher und wuchtiger.
Da Weitwinkel- im Vergleich zu Teleobjektiven bei gleicher Blende viel mehr Schärfentiefe erzeugen, sind sie auch dazu geeignet, um von vorne bis hinten alles scharf darzustellen. Ausserdem sind sie überall da notwendig, wo wir nicht weiter zurücktreten können, um ein Motiv ins Format zu bekommen, beispielsweise in Innenräumen oder bei beengten Strassenverhältnissen. Aber verkanten Sie dabei die Kamera nicht. Das kann beim Super-Weitwinkel ohne genau waagrechte Kamerahaltung zu unerwünschten Verzeichnungen führen. Ich persönlich schätze Weitwinkelobjektive auch, um Personen in ihrem Umfeld zu zeigen.
Telezoom
Bei Zooms ab 70 mm spricht man von Telezooms. Während Brennweiten um 100 mm ideal für Porträts sind, braucht es für Tieraufnahmen meist weit mehr. Im Telebereich ist die räumliche Wirkung gering. Grössenunterschiede von vorne und hinten schwinden. Es scheint, dass Raum und Objekt regelrecht zusammengequetscht werden. Durch diese Raffung des Raums und die Verflachung dreidimensionaler Objekte, lassen sich frappierende Bildeffekte erzielen, wie beispielsweise Autos im Stau, bei denen sich die Stossstangen zu berühren scheinen. Bei Landschaftsaufnahmen entstehen interessante Abstraktionen von Formen und Farben bei Brennweiten ab 300 mm fast künstlerisch. Atmosphärische Phänomene wie Nebel, Hitzeflimmern, Dunst oder staubige Luft lassen sich mit einem Tele verdichten.
Der enge Bildwinkel eines Teleobjektivs macht es leichter, Bilder aufzunehmen, die sich auf das Wesentliche konzentrieren. Dabei kann der Hintergrund durch einen Schritt nach links oder rechts komplett ausgewählt werden, sodass Bildinhalte freier gestaltet werden können. Im Vergleich zum Weitwinkel haben Teles von Natur aus eine geringere Schärfentiefe. Dies lässt sich gezielt einsetzen, um Motive vor einem unscharfen Hintergrund abzuheben. Bei gewissen Motiven lohnt es sich, bereits aus der Ferne mit dem Tele ein Bild zu machen. Denn ein Kirchturm beispielsweise überragt aus der Nähe die Stadt nicht mehr so, wie er es aus der Ferne tut.
Für kleine Tiere oder solche mit grosser Fluchtdistanz packe ich ein 150-600-mm-Objektiv ein. Auch Sportfotografen verwenden solche Brennweiten. Bei Bühnenaufnahmen sind nicht ganz so starke Teles gefragt, allerdings ist hier eine grosse Lichtstärke von Vorteil, beispielsweise ein 70-200 mm mit Anfangsblende 2,8. Ein solches Telezoom würde sich auch für einen Telekonverter eignen, mit dem sich Brennweite aber auch Blende verdoppeln lassen. Sie sind zwar leicht und kompakt, aber qualitativ nicht immer zufriedenstellend, da sie auch die Abbildungsfehler des Objektivs verdoppeln.
Spezialobjektive
Weitere Objektive können von Fall zu Fall sinnvoll sein. So kommen bei mir auch Festbrennweiten zum Einsatz, hauptsächlich weil sie viel lichtstärker sind. Dadurch eignen sie sich bei wenig Licht, also in Innenräumen, in der Dämmerung oder bei Fotos von Sternenhimmel oder Nordlichtern. Die geringe Schärfentiefe beispielsweise bei einem 35 mm/1,8 oder 50 mm/1,8 ermöglicht mir ausserdem, das Motiv mehr zu betonen, da der Hintergrund unscharf wird, ohne dass ich eine Telebrennweite verwenden muss.
Daneben bin ich auch Fan von meinem Fisheye-Objektiv, mit dem ich 180 Grad des Bildfelds abbilden kann. Dies wird optisch erst möglich, weil der Abbildungsmassstab nach aussen hin abnimmt, wie es bei einer sehr starken tonnenförmigen Verzeichnung der Fall ist. Die Perspektive sieht dann in etwa so aus, als hätte man das Bild von einer Spiegelkugel abfotografiert. Dieser Bildeffekt kann bei einzelnen Motiven sensationell wirken, aber nur wenn man ihn nicht zu häufig einsetzt.
Ein Makroobjektiv schliesslich ermöglicht mir beispielsweise, Insekten oder Blumen formatfüllend in Szene zu setzen. Klar, auch mit einem Reisezoom kommt man recht nahe ran, und mit Zwischenring oder einer aufgeschraubten Nahlinse noch näher. Aber wer gerne Nahaufnahmen bis Massstab 1:1 macht, wird sich früher oder später ein Makroobjektiv leisten. Dabei empfehle ich eine Brennweite von 105 mm, da diese noch genügend Abstand zum Motiv erlaubt und der Hintergrund aktiv ausgesucht werden kann. Und mit der meist guten Anfangsblende von 2,8 eignet sich dieses leichte Tele auch perfekt für Porträts mit viel weniger Schärfentiefe, als dies mit einem Reisezoom möglich wäre.
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