Abseits des Kungsleden von Nikkaluokta nach Abisko
Ich versuche einmal im Jahr eine eher abenteuerliche Reise zu unternehmen. Abseits der ausgetretenen Pfade, in der wilden Natur, ohne Frau und Kinder, dafür wenn möglich mit gleichgesinnten Freunden … einfach wieder einmal die Akkus an der frischen Luft laden und den Gedanken freien Lauf lassen. Diesen Spätsommer klappte es mit einem Trekking im Norden von Schweden, im gebirgigen Teil Lapplands. Das verlief allerdings etwas anders, als wir uns das vorgestellt hatten … ganz abenteuerlich eben.
Wir gelangen mit dem Flugzeug nach Kiruna und reisen am nächsten Morgen mit dem Linienbus nach Nikkaluokta, dem Ausgangspunkt unseres Trekkings. Wir sind vollständig ausgerüstet und haben neben dem Schlafzimmer (Zelt, Schlafsack, Thermo-Matte) und Küche (Benzinkocher, Geschirr) auch Proviant für 8 Tage dabei. Am ersten Tag fühlen sich die Rucksäcke noch schwer an. Wir wissen zum Glück, dass man sich daran gewöhnen kann. Immerhin ist der Weg gut ausgebaut. Wir wandern auf dem Zubringer des berühmten Kungsleden und begegnen auffallend vielen jungen Leuten. Auf der anderen Seite des Tarfal-Flusses (Bild) beschliessen wir, unser Lager aufzuschlagen. Gerade noch rechtzeitig vor dem einsetzenden Regen. Hier befinden wir uns praktisch am Fuss von Schwedens höchstem Berg, dem Kebnekaise (2099 m). Regelmässig fliegen Helikopter in relativ geringer Höhe über uns hinweg. Die Kebnekaise-Fjällstation ist also nicht mehr weit. Sie ist für viele Schweden der Ausgangspunkt zur Besteigung ihres höchsten Berges. Für uns ist die gut ausgebaute Hütte vor allem eine gute Informationsquelle. Leider lässt der Wetterbericht für den nächsten Tag einen wolkenverhangenen Gipfel erwarten.
Aber auch der Nieselregen kann uns den Appetit nicht verderben. Wir erfreuen uns an leckeren Hackfleisch-Bällchen, die wir für den ersten Abend noch mitgeschleppt haben.
Am nächsten Morgen entscheiden wir uns, den Kebnekaise buchstäblich links liegen zu lassen und wandern weiter zum Tarfal-See bei der gleichnamigen Hütte. Der Fluss führt ungewöhnlich viel Wasser für diese Jahreszeit. Von Einheimischen lassen wir uns sagen, dass dieser Sommer bisher aussergewöhnlich feucht und kalt gewesen sei. Mmmh … dann wirds ja jetzt vielleicht besser?
Der Nachmittag am Tarfal-See ist trocken. Ab und zu lugt sogar die Sonne zwischen den Wolken hervor, sodass wir uns gegenseitig zu einem Bad im eiskalten Wasser überreden.
Auch der nächste Tag ist grösstenteils ohne Regen, aber die Gipfel sind wolkenverhangen. Immerhin ist der erste Pass noch nicht in den Wolken.
Nordseitig finden wir oft noch ausgedehnte Schneefelder vor, ebenfalls eine Folge des nassen und kühlen Sommers. Uns kommt das gerade gelegen um knieschonend ins Tal zu rutschen.
Im Kaskasvaggi (vaggi = Tal) treffen wir Claes Wallenberg. Er macht bei einem Experiment mit und ernährt sich während seiner 30 Trekkingtage praktisch nur von Fetten. Statt einen Riegel zu essen, gönnt er sich während seiner Rast einen warmen Tee mit Kokosfett und ein paar Löffel gesottene Butter. Er hat schon über 3 Wochen hinter sich und fühlt sich offenbar immer noch wohl. Wir wandern gemeinsam weiter über den dritten und letzten Pass bis zur Unna Räitastugan (tugan = Hütte) und lernen so viel Interessantes über Ernährung dazu. Und Claes ist es auch, der uns wertvolle Tipps zu unserer weiteren Routenführung geben kann, die schliesslich unsere Planung völlig über den Haufen werfen.
Unweit von der Hütte haben wir einen fantastischen Ausblick das Unna Reaiddavaggi hinunter. Die Hütte ist unbewartet und sehr klein. Wir nutzen sie als windgeschützten Ort zum Essen, schlafen aber wie gewohnt in unseren Zelten.
Der nächste Morgen entschädigt uns für das bisherige Wetter. Ein herrlicher Anblick! So schön kann es hier also auch sein. Blick über den See unweit der Hütte.
An zahlreichen kleinen Seen und Tümpeln vorbei wandern wir weiter talaufwärts gegen Westen.
Über einen kleinen Pass gelangen wir ins malerische Stuor Reaiddavaggi, dem wir nordwärts Richtung Nallostugan folgen.
Bereits ziehen wieder Wolken auf.
Zum Mittagessen gibt es oft Brot mit Wurst und Käse, ergänzt mit ein paar Keksen, Dörrfrüchten oder Nüssen.
Gestärkt nutzen wir die relativ günstige Witterung und besteigen den Nallo (1585 m). Während des Aufstiegs werden wir mit tollen Aussichten ins Tal und zur Nallostugan belohnt.
Auf dem schmalen Gipfelgrat beginnt es plötzlich zu schneien.
Trotzdem kommen wir wohlbehalten in unserem Camp an und gönnen uns gleich einen „Freshwater-Drink“ direkt aus dem Bach. Im Hintergrund der von dieser Seite langgezogene Rücken des Nallo.
Zum Abendessen lugt noch einmal die Sonne hervor und wärmt unsere Gemüter. Als sie allerdings hinter dem Horizont verschwindet, besuchen wir die Nallo-Hütte (im Hintergrund) in der Absicht, dort einen Tee zu trinken und etwas Informationen auszutauschen. Als wir bereits in der warmen Stube sitzen, meint die Hüttenwartin, sie könne uns schon einen Tee machen, es sei aber generell die Tagesgebühr von umgerechnet rund CHF 15.– pro Person fällig. Erstaunt schauen wir uns gegenseitig an und finden, das sei dann aber ein teurer Tee. Wir werden dann aufgeklärt: In schwedischen Hütten gibt es keine Restauration. Es muss grundsätzlich selber gekocht werden, aber es werden Kochstellen zur Verfügung gestellt. Und dabei gibt es einen Tages- und einen Übernachtungstarif. Die Hüttenwartin schlägt daraufhin vor, dass wir uns den Tee alternativ auch mit Holzhacken verdienen können.
Da wir das gerne machen und wir sowieso nichts zu tun haben, leisten wir fast eine Stunde Fronarbeit. Die Hüttenwartin ist dermassen begeistert, dass sie uns anschliessend zum Tee gleich noch einen grossen Käse und Kekse auftischt.
Am Morgen ist es noch einmal merklich kühler geworden. Es liegt bereits Schnee auf den umliegenden Erhebungen.
Wir lassen den Nallo hinter uns (rechts im Bild). Von hier aus gesehen würde man nicht ahnen, dass man diesen Berg ohne Kletterausrüstung besteigen kann.
Nach der Mittagspause steigen wir auf der östlichen Seite des breiten Vistasvaggi (Tal) wieder hoch.
Am Vassaloamijavri (javri = See) schlagen wir unser Lager auf und tauchen in das eiskalte Wasser, solange wir noch Überschusswärme haben vom Aufstieg. Hygiene muss sein, auch in der Wildnis. Nach dem Bad breitet sich immer ein angenehmes Gefühl im Körper aus.
Von einer Felskante in der Nähe können wir dem Vistasvaggi entlang talabwärts bis nach Nikkaluokta sehen. Der Anblick dieser weitläufigen Natur und des frei mäandrierenden Flusses erfreut mein Herz. Genau wegen solchen Naturerlebnissen sind wir nach Lappland gekommen.
Über Nacht hat es noch einmal geschneit. Trotzdem versuchen wir am nächsten Tag, den rund 1600 Meter hohen Marma-Pass zu überqueren.
Geschafft. Auf der anderen Seite des Passes erleichtern uns ausgedehnte Schneefelder das Vorwärtskommen.
Nach der Mittagspause in der Marmastugan setzt der Regen ein, der uns den ganzen Nachmittag talauswärts begleitet.
Am nächsten Morgen ist es zwar kurzzeitig trocken, aber immer noch bläst dieser kühle Wind von den Bergen.
Nach der Überquerung des Aliseatnu-Flusses verläuft der Weg zunächst durch hohes Erlengestrüpp. Der Weg ist nicht immer eindeutig. Regen setzt wieder ein. Zeitweise gehen wir durch Sumpf und Bachbette. Unsere Schuhe sind seit gestern längst bis auf die Socken durchnässt. Bei jedem Tritt zischt Luft und Wasser aus den Schuhen. Angenehm ist das nicht, aber wir gewöhnen uns daran. Vielmehr stört mich, dass meine Handschuhe unterdessen auch nass sind und mir der Wind Schneeregen ins Gesicht peitscht. Ich habe Mühe, meine Hände warm zu halten. In solchem Gelände sind Stöcke sehr von Vorteil, um die Tiefe der zahlreichen Pfützen abzuschätzen. Das heisst aber auch, dass ich die Hände nicht in die Jackentaschen stecken kann. Einige Male verlieren wir den Pfad und merken, dass es mehrere davon hat. Aber schliesslich kommen wir an einen grossen Fluss mit guten Lagerplätzen, von denen uns Claes schon erzählt hat. Wir erklären um 15 Uhr nachmittags den Tag für beendet und verkriechen uns in unsere warmen Schlafsäcke.
Während wir in unseren Zelten Tagebuch schreiben, Hörbücher hören und endlose Gespräche über Gott und die Welt führen, wird das Wetter draussen immer garstiger. Wir verzichten aufs Kochen und Essen, ja gehen nicht mal zum Pinkeln aus dem Zelt. Während der langen Nacht wächst der starke Wind zu einem Sturm aus.
Beim ersten Tageslicht um ca. 5 Uhr morgens rufen wir durch die windgepeitschten Zeltwände hindurch zu den Nachbarzelten, dass wir Angst um die Zelte haben und einen Aufbruch vorschlagen. Wir packen also zunächst alles innerhalb der Zelte zusammen in den Rucksack. Dann bleibt jeweils einer im Zelt liegen, um ein Fortblasen des Zeltes zu verhindern. Alle anderen helfen, ein Zelt um das andere abzubauen, indem immer zuerst die Stangen aus den Zelten gezogen werden und am Schluss die Heringe. Kaum sind die nasskalten Zelte in die Rucksäcke gewurstelt, überqueren wir den Fluss und schlagen uns gegen den Wind durch. Rund 10 Stunden schätzen wir, wird unsere letzte Etappe bis nach Abisko dauern – bei normalen Wetterverhältnissen. Trotz Stöcken torkeln wir gegen den Wind und haben Mühe, bei diesen Windböen unser Gleichgewicht zu halten. Der Schneeregen sticht in Gesicht und Augen als würde er aus kleinen Nadeln bestehen. Der Weg ist kaum mehr erkennbar. Wir navigieren mit Kompass, der uns quer durch nasse Sümpfe führt. Wir kommen nur langsam vorwärts und jeder sehnt sich nach der Sauna in Abisko. Halt, ruft Peter. Er äussert als erster Bedenken, ob ein Weitergehen vernünftig ist. Auch mich selbst beunruhigte schon eine Weile die Frage, was passiert, wenn sich jemand bei diesem eisig kalten und nassen Huddelwetter einen Fuss vertritt oder sonst nicht mehr weitergehen kann. Das kann schnell gefährlich werden. Und wer trägt die Verantwortung dafür? Ganz klar Peter und ich, als die ältesten und erfahrensten Berggänger. Wir diskutieren kurz. Die drei jüngeren Gefährten würden es lieber durchziehen und zu Ende bringen, sehen dann aber auch ein, dass ein Weitergehen zu gefährlich ist. Zumal zu erwarten ist, dass der Wind im Tal von Lapporten noch wesentlich zunehmen würde (Ausrichtung des Tals und Venturi-Effekt). Wir blasen zum Rückzug. Gestern entdeckten wir bei einer Rast eine private Hütte, rund 2 Stunden entfernt von hier. Sie war gestern offen, das hatte ich aus Neugier überprüft. „Geschlossen“ ruft Thomas entsetzt, als wir dort ankommen. Ich kann es nicht glauben, kratze die 10 cm dicke Schicht von windgepresstem Schnee weg und gebe Entwarnung. Die Tür lässt sich gegen den Winddruck öffnen. Wir warten bis alle eintrittsbereit sind und stehen bald darauf in der Hütte.
Es dauert allerdings eine Weile, bis Feuer gemacht ist und wir uns gemütlich eingerichtet haben.
Am Nachmittag ist das Gröbste vorüber. Abends zeigt sich sogar die Sonne und beleuchtet schön die Ufer des Rautasjaure (jaure = See), auf den wir aus dem Hüttenfenster immer wieder blicken, wenn ein anderer die Jasskarten mischt.
Am nächsten Morgen sind wir mit neuen Energien wieder bereit für die lange Schlussetappe. Ausser den Schuhen konnte alles trocknen.
Noch einmal müssen wir auf rutschigen Felsen über den Fluss springen.
Was für ein Unterschied! Würde uns ein Wanderer erzählen, was wir gestern genau hier erlebt haben … wir würden es ihm wohl nicht glauben.
Lapporten, das Wahrzeichen der Gegend.
Schliesslich ist unser Ziel in Sichtweite: Abisko am grossen Torneträsk.
Schön wars in der wilden Natur. Trotzdem freuen wir uns auf das Festessen heute abend, die heisse Sauna und das warme Bett. In Absiko warten ausserdem noch zwei Kanus auf uns. Ob wir den geplanten Kanu-Trip allerdings antreten werden, ist nach dem Erlebten etwas unsicher. Kanufahren in dieser Kälte? Daniel hat sich bereits dagegen entschieden, er steigt aus. Wir anderen vier beschliessen, erst mal den Wetterbericht zu studieren und in der Sauna weiter zu diskutieren.
Klar, Sommerferien (19. bis 27. August!) in Lappland haben wir uns etwas anders vorgestellt. Aber ist nicht gerade das Unvorhersehbare und Überraschende, welches das eigentliche Abenteuer ausmacht? Ich bin überzeugt, dass es jedem gut tut, öfters aus der eigenen Komfortzone auszubrechen. Aus solchen Erfahrungen schöpfe ich jedenfalls die Kraft und die Zuversicht, dass mich so schnell nichts aus der Bahn zu werfen vermag.
Hi Dominique, einmal mehr alle Achtung vor dieser Lappland-Herausforderung!
Die Antwort auf die Frage, „wieso tut man sich das an“ liegt in deiner Schlussbetrachtung.
Mit dieser Überzeugung kann ich das strapaziöse Unternehmen verstehen und in Würdigung nachvollziehen. Rekordstreben bleibt da auf der Strecke und reicht wohl auch kaum aus für das notwendige Durchhaltevermögen.
In diesem Sinne bin ich, allerdings auf „breiteren Pfaden“, immer wieder in Indonesien unterwegs.
Herzliche Grüsse vom Sigi.
Lieber Dominique
mit grosser Bewunderung eurer Leistung verfolge ich den interessanten Bericht und bin einmal mehr erstaunt ob der Schönheit der Natur, welche du wie immer vor“bildlich“ rüberbringst!
Glückwunsch euch allen und herzlichen Dank für die eindrückliche Reportage
Brigitte
[…] wir während unseres Trekkings nach Abisko unerwartet kühles und feuchtes Wetter durchlebten, hat unsere Motivation, die Reise wie geplant […]
Du Verrückter! Toller Trip mit tollen Bildern. Aber die Nacktbaderei hat Dir bestimmt besser beim 100. Tauchgang auf Raja gefallen – so ist jedenfalls meine Hoffnung ;-). Lass es Dir gut gehen! Ganz liebe Grüsse derzeit aus Vietnam, Conny
Hallo Dominique
Ich habe gerade eben Deine email gefunden, bin viel unterwegs gewesen und bei der Menge spam die ankommt sehe ich manchmal die wichtige Post erst viel später beim nochmaligem durchgehen der Inbox.
Hat mich sehr gefreut euch zu treffen und zusammen einen Tag zu wandern, sehr schön, dass ihr alle wohlbehalten das Unwetter überstanden seid – normaler weise sind die privaten Hütten abgeschlossen. Da habt ihr schon Glück gehabt!
Ich hoffe, wir sehen uns noch in der Zukunft, im Norden oder bei euch in den Alpen!
Alles Beste // Claes
Lieber Dominique,
Tolle Bilder, schöne Erlebnisse und spannende Abenteuer.
Alles Gute und die besten Wünsche für 2018!
Bruno
Lieber Dominik
so schön, deinen Bericht zu lesen und diese tollen Bilder zu geniessen … Hut ab vor euch diese tolle Leistung!!! Ich wünsche dir und deiner Familie fürs 2018 alles Liebe und Gute und weiterhin viele schöne abenteuerliche Erlebnisse rund um den Globus – weiters so :))
Glg Grüsse aus der Ostschweiz Barbara